Angedacht

Vertreibung ist in der Bibel der Normalfall

»Und der HERR sprach zu Abraham: Geh aus deinem Land und aus deiner Verwandtschaft und aus dem Haus deines Vaters in das Land, das ich dir zeigen werde.« (Gen 12,1) Wegen einer Hungersnot muss er später nach Ägypten migrieren und dort als »Fremder« leben (Gen 12,10). Auch Jakob musste in der Josephsgeschichte mit seiner gesamten Sippe aufgrund einer Hungersnot – wir würden heute sagen: als Wirtschaftsflüchtling – in Ägypten Zuflucht suchen. Nachdem die Nachkommen dort viele Jahre in der Sklaverei verbracht hatten, führt Mose sie aus Ägypten heraus, getragen von der Verheißung Gottes auf ein Land, in dem »Milch und Honig fließen« werden (Ex 33,3). Aber so wichtig das Versprechen zweifellos ist, geht es in den Mose-Erzählungen noch um etwas anderes: die Bedeutung der gemeinsamen Erinnerung an die eigene Flüchtlingsgeschichte, die in der Präambel der Zehn Gebote unmissverständlich festgehalten wird: »Ich bin der Herr, dein Gott, der dich herausgeführt hat aus dem Land Ägypten, aus einem Sklavenhaus« (Ex 20,2).

 

Heimat kann es ohne die Erinnerung an die eigene Heimatlosigkeit nicht geben.

 

Die wenigen Schlaglichter auf die Geschichte des Volkes Israel haben etwas Irritierendes, weil häufig gar nicht klar wird, wovon eigentlich die Rede ist: Geht es um Heimatverlust oder Heimweh und Heimatsuche oder geht es um eine Heimat ganz eigener Art, die sich auf keiner Landkarte findet und in deren Richtung kein Straßenschild oder Wanderwegzeichen zeigt?

 

Und für uns Christenmenschen sieht es nicht viel anders aus. Christenmenschen sind ganz auf Ewigkeit geeicht. Deshalb werden sie auch in der Heimat und in ihrer vertrauten Lebenswelt ihr Heimweh nicht los. Und selbst wenn sie in der vertrauten Heimat sterben, sprechen sie – jedenfalls unsere Mütter und Väter noch hoffnungsvoll – von ihrem Tod als «Heimgang». Heimgehen kann nur, wer noch nicht zu Hause ist.

 

Und der Schreiber des Hebräerbriefes resümiert: »Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.« (Hebräer 13,14).

 

Heimat hat sogar Eingang gefunden in unser wichtigstes Gebet. Wahrscheinlich ist uns beim Nachsprechen des Vaterunsers kaum bewusst, dass wir mit der Bitte »Dein Reich komme« die christliche Heimatsehnsucht in konzentriertester Form aussprechen. Bleiben Sie beheimatet bei Gott!

 

Ihr Stefan König  

Pfarrer Stefan König